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Thomas startet durch – Laufen, weiterbilden und wieder Musik hören

Ein Interview von Claus Peter Müller v. d. Grün

Professor Dr. Robert Behr hat den Kontakt zu einem weiteren seiner Patienten vermittelt. Es ist ein aufgeschlossener junger Mann in einer beruflichen Weiterbildung.  Ich schreibe ihn an, und er antwortet sogleich freundlich. Wir treffen uns an einem Samstag im Spätsommer 2018 und vereinbaren, dass die Anonymität meines Gesprächspartners gewahrt wird.

Thomas erwartet mich am vereinbarten Treffpunkt und wir gehen – zunächst schweigend – etwa zehn Minuten in ein Café am Rand der Innenstadt. Thomas ist an Neurofibromatose Typ II (NF2) erkrankt. Die Tumorerkrankung hat seine Hörnerven zerstört. Sie befällt aber auch andere Nerven. Thomas trägt ein Auditory Brainstem Implantat (ABI), das ihm Professor Dr. Behr mit seinem Team in Fulda implantiert hat. Das Implantat erleichtert Thomas die Kommunikation zwar sehr, aber ein Gespräch ohne Sichtkontakt zum Lippenlesen ist ihm nicht möglich.

Das Café ist an einem Samstagnachmittag ein relativ ruhiger Ort, an dem wir uns gegenübersitzen können. Thomas erklärt mir, wie wohl jedem seiner Gegenüber beim ersten Mal, dass es wichtig ist, mit ihm Augenkontakt zu halten, damit er von den Lippen lesen kann, deutlich, aber nicht zu langsam und nicht zu laut zu sprechen. Ich versuche es, und die Konversation kommt in Gang, – besser und besser, so dass Thomas drei Stunden später, am Ende des Gesprächs, für die Reportage über ihn das „Du“ anbietet.

Mit 16 Jahren war das Gehör weg

Thomas sagt, er wisse ja nicht, worauf er sich einlasse. Aber er erzähle einmal von Anfang an: „Mit 16 Jahren, als mit einem Mal das Gehör weg war und gleichzeitig ein Tinitus einsetzte, da hat mich der HNO-Arzt erst behandelt wie einen Patienten mit einem normalen Hörsturz, aber die Behandlung hat nicht angeschlagen. Ärzte, die sich mit NF2 auskennen, gibt es in Deutschland nicht all zu viele. Wir wurden dann an der Uniklinik vorstellig, und die wussten etwas über NF2.“

„Herr Behr wusste wirklich Bescheid“

Im Uniklinikum zeigte es sich, dass die Tumoren auf beiden Seiten schon „recht groß“ geworden waren. 2005 wurde Thomas zum ersten Mal operiert, zunächst nur auf der rechten Seite. „Links“, sagt er, „da haben wir gewartet, was der Tumor macht. Wir haben gewartet, bis er raus musste.“ Thomas war Anfang 20, da wurde sein Gehör auf der linken Seite „ganz langsam immer schlechter, so dass ich fast ganz ertaubt war. Dann ging es darum, ob ich den Tumor in der Uniklinik bestrahlen lassen, oder ob ich mich in Fulda operieren lassen wollte. Meine Ärztin kannte Professor Behr noch vom Studium her. Und Herr Behr, der wusste wirklich über das ABI Bescheid. Er war damals der erste Arzt, der sich Zeit genommen hat für die Aufklärung. Er war sehr menschlich. Man hat gemerkt, dass er Ahnung von der Krankheit hat. Leider gestehen sich viele Ärzte nicht ein, dass sie keine Ahnung von der seltenen Erkrankung haben und behandeln dann weiter. Ich jedenfalls hatte nach den Gesprächen in Fulda und in der Uniklinik im ABI die beste Chance für mich gesehen und mich für die neurochirurgische Entfernung des Tumors und die Implantation des ABI entschieden.“

Das Prozedere nach der ABI-Implantation zehrt an den Kräften

2009 wurde Thomas in Fulda durch Professor Dr. Behr und sein Team der Tumor auf der linken Seite entfernt und ein ABI eingesetzt. Dann begann für Thomas das „übliche Prozedere mit der Erstanpassung“ des ABI: „Es gingen bei mir erfreulicherweise alle zwölf Elektroden. Mittlerweile und nach weiteren Operationen sind es weniger. Es war damals anfangs alles ziemlich anstrengend, mit dem ABI zu hören. Es war wie ein Brei, was bei mir an akustischer Information ankam. Doch ich hörte verschiedene Töne, die ich vom Brei unterscheiden konnte wie etwa Schritte am Flur oder ein Stapfen beim Gehen. Es war anfangs sehr anstrengend. Ich hatte Schmerzen und konnte das ABI nicht den ganzen Tag anlassen. Nach und nach wurde es besser durch immer neue Einstellungen. Zunächst aber musste ich mich immer wieder an die neue Einstellung gewöhnen, und mittlerweile lasse ich das ABI den ganzen Tag an.“

„Es ist faszinierend, was ich alles mit dem ABI höre“

Das ABI ist für Thomas zu einem unverzichtbaren Hilfsmittel geworden: „Ich konnte die Töne immer besser unterscheiden. Doch für ein offenes Hörverständnis reichte es nicht mehr. Vor allem mit engeren Freunden und in der Familie da klappt die Kommunikation fast problemlos. Aber immer in der Kombination mit dem Lippenlesen. Das mit dem Lippenlesen funktionierte bald automatisch. Ohne ABI könnte ich nur wenig von den Lippen lesen. Wir haben da mal einen Test gemacht und überprüft, was ich verstehe, wenn ich nur von den Lippen lese, wenn ich nur mit dem ABI höre, und was ich in Kombination von beidem verstehe. In der Kombination von beidem hatte ich immer gute Ergebnisse. Auch mit dem ABI einzeln war das Verständnis größer, als ich es vermutet hatte. Es war faszinierend zu erkennen, was ich tatsächlich alles mit dem ABI gehört habe. Ich hörte immer mehr, als ich eigentlich gedacht hatte.“

Thomas vergleicht: „Ich kenne eine Frau, die hört mit dem ABI ohne von den Lippen zu lesen. Und ich habe einen anderen mit NF2 kennengelernt, bei dem das ABI gar nicht funktioniert.“

„Dank ABI fühle ich mich mehr in der Normalität“

Die Erkrankung steht nicht still. 2011 folgten für Thomas zwei Operationen am Klinikum Fulda, um weitere Tumoren zu entfernen und das ABI neu zu justieren. Das Prozedere der Einstellung begann von vorne. Drei oder vier der zwölf Elektroden wurden deaktiviert. „Nach der Neueinstellung hat es gedauert, bis ich wieder auf dem Niveau von vor den Operationen hören konnte. Aber es ist gelungen, obwohl weniger Elektroden funktionierten als vorher. Vor Weihnachten 2017 stand wieder eine Operation an. Zunächst habe ich danach drei Monate nichts gehört bis zur abermaligen Aktivierung des ABI. Da habe ich gesehen, wie hilfreich das ABI für mich geworden ist. Es war ziemlich ungewohnt, als ich gar nichts hörte. Allein mit dem wenigen, das ich dank ABI hören kann, fühle ich mich mehr in der Normalität. Im Straßenverkehr habe ich gar nichts gehört. Und ohne ABI gelingt die Kommunikation deutlich schwerer bis gar nicht, wenn ich etwa Termine auf Ämtern wahrnehme oder beim Arzt. Ich habe in diesen drei stillen Monaten gesehen, dass mir das ABI was bringt, ja dass es mir sehr viel bringt, auch wenn es sehr anstrengend ist, damit zu hören. Wieder wurden ein oder zwei weitere Elektroden deaktiviert. Es gehen also noch sechs oder sieben. Aber schon vier bis sechs Wochen nach der Anpassung und Eingewöhnung läuft es wieder so gut wie früher. Und mein Gegenüber stellt sich meistens besser auf mich und meine Erkrankung ein als ich mich selber.“ – Die Wahrnehmbarkeit der Sprache hängt auch von der Frequenz der Stimme ab. Die hohen Stimmen der Frauen, beschreibt Thomas „ein Gefühl“, verstehe er besser.

Der Freundeskreis ist kleiner geworden

Dennoch ist der Alltag für ihn „ziemlich schwer“ und trotz ABI die Kommunikation nicht einfach. Gespräche führe er immer nur „eins zu eins“. Wenn zwei oder drei Personen dazukommen, oder wenn er in einer Gruppe sei, dann gehe es gar nicht: „Ich treffe mich mit Freunden darum lieber nur zu zweit, weil dann die Kommunikation besser klappt. Aber viele verstehen nicht, wie es ist, wenn man hörgeschädigt ist. Deshalb kommt die Kommunikation zu kurz. Es ist nicht wie früher vor der Erkrankung, wenn man heute ausgeschlossen ist von der Kommunikation. Viele wissen nicht, wie sie mit einem Hörgeschädigten umgehen sollen. Ich bin darauf angewiesen, dass sich die Leute auf mich einlassen. Manche lassen sich darauf ein, und andere, neue Leute gehen einem von vornherein aus dem Weg. Wer sich auf mich einlässt, weiß nach und nach, wie er sich verhalten soll. Worauf ich auch keine Lust habe, ist es, immer wieder von Neuem erklären zu müssen, wie sich die Leute verhalten sollen. Früher, da hatte ich einen normalen Freundeskreis. Der ist kleiner geworden. Ein paar sind übrig geblieben, vor allem engere Freunde.“

Halbmarathon in 1:49

Früher spielte Thomas Fußball. Diesen Sport gab er auf, nachdem sein Gleichgewichtssinn gestört war. Aber er hat das Laufen für sich entdeckt. Thomas startet durch. Drei Mal die Woche läuft er zehn Kilometer und „manchmal auch noch mehr“. Laufen mache Spaß und gebe ihm ein Gefühl der Freiheit. Zehn Kilometer läuft Thomas in 45 Minuten und einen Halbmarathon absolviert er in einer Stunde und 49 Minuten. „Radfahren ist für mich schwer“, sagt Thomas: „Geradeaus geht es, aber in Kurven oder beim Umdrehen verreiße ich den Lenker. Auch das Schwimmen ist schwierig, denn als ich einmal getaucht bin, habe ich die Orientierung verloren. Ich versuche beim Schwimmen, dass es wieder besser wird. Ich probiere es aus. Ich tauche, wenn ich mich festhalten kann, oder wenn einer dabei zuschaut. Das sind alles Sachen, die Mut machen, dass es weitergeht.“

„Ich höre auch wieder Musik“

„Und mittlerweile höre ich auch wieder Musik“, spricht Thomas ein weiteres Thema an: „Es ist bei weitem nicht so, wie es mal war. Ich höre fast täglich über Kopfhörer. Wenn ich die Lieder von früher kenne, dann kann ich mir denken, wie es sich angehört hatte. Ich erkenne die Melodie noch. Ich höre die Melodie raus und im Hintergrund singt wer. Aber die Stimme klingt wie Genuschel. Dennoch: Das ,Musik hören’ mit dem ABI ist für mich ,wieder Musik’ hören geworden.

„Man muss damit rechnen, dass neue Tumoren wachsen“

Wie es weitergehe, sagt Thomas, sei nicht vorhersehbar: „Man muss damit rechnen, dass neue Tumoren wachsen – nicht nur im Kopf. Es ist schwer zu sagen, was kommt. Man versucht halt immer das Beste daraus zu machen. Es ist der Kontakt zu anderen NF2-Betroffenen, der sehr gut tut. Da fühlt man sich normaler, weil das Gegenüber weiß, wie es ist, mit der Krankheit zu leben. Ich hatte mir große Erwartungen gemacht, noch mehr zu hören mit dem ABI. Aber jetzt bin ich froh, das ABI zu haben. Ohne ABI würde ich gar nichts hören. Mit uns“, sagt Thomas zu mir, „klappt die Kommunikation schon ganz gut. Wenn wir uns öfter sehen würden, würde die Kommunikation noch besser werden.“ Wir gehen noch ein Stück gemeinsam entlang befahrener Straßen, – nebeneinander, miteinander sprechend und dabei den Blickkontakt haltend. „Na also, geht doch!“, denken wir uns.

 

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